„ICH HÖRE NACHTS DIE LOKOMOTIVE PFEIFEN, SEHNSÜCHTIG SCHREIT DIE FERNE UND ICH DREHE MICH IM BETT HERUM UND DENKE: REISEN…!“
Dieses Zitat von Kurt Tucholsky fällt mir ein und es trifft meinen derzeitigen Gemütszustand. Was gäbe ich dafür wieder auf meinem geliebten Traktor zu sitzen. Heute soll die Lithotripsie (Nierensteintrümmerung) unter Teilnarkose durchgeführt werden. Ich bin aufgeregt. Um 10 Uhr bekomme ich die Prämedikation in Form eines Sedativa per os. Danach werde ich ruhiger und sehr müde. Dann holt mich jemand mit meinem Bett ab und fährt mich in den OP-Raum. Ich werde umgebettet und nach ein paar Lagerungsanweisungen des Anästhesisten und nach Aufsetzen einer Maske beginnt der Tropf zu laufen. Ich bin gerade am Wegdämmern, als ich wieder etwas wacher werde. Nanu? Wirkt das Betäubungsmittel nicht? Mir ist schon alles egal. Hauptsache, die Stoßwellen erreichen bald meinen Korpus.
Doch nichts geschieht. Nach einigen Minuten tritt der Arzt an mich heran und bedauert sehr, dass die Behandlung leider nicht durchgeführt werden kann, weil die Technik nicht mitspielt. Die Technik? Die „Trümmeranlage“ in Trümmern? Gibt’s das? Ich höre mit meinem benebelten Kopf Männerstimmen nebenan. Die Haustechniker sind am Werk und versuchen vergebens ein Bild auf den Monitor zu bekommen. Doch der Bildschirm behält seine Schwärze und unter meinen geschlossenen, schweren Lidern schaue ich auch nur ins Dunkle. Wenig später wird die Narkose komplett abgebrochen und ich werde wieder zurück in mein Zimmer gebracht. Dann begegne ich am Nachmittag als Barbara mich besucht noch einmal dem verantwortlichen Narkosearzt.
Er bedauert nochmals, dass er heute Morgen nicht „zu Potte“ kommen konnte, weil die Elektrotechnik ihren Geist aufgegeben hat. Die Techniker für dieses „Millionengrab“ sind informiert und müssen von außerhalb kommen, um den Schaden zu reparieren. Das kann auch erst Morgen sein. Bin ich ein Pechvogel oder bin ich ein Pechvogel? Doch besser „Bein zu als Arm ab“ oder wie das Sprichwort heißt. Doch das Bein ist ja schon zu……
Ich bekomme verspätet so um 14 Uhr Mittagessen angeboten, doch ich lehne dankend ab. Zu sehr beschäftigt mich das Malheur im OP-Raum. Später gehe ich mit Barbara nach gegenüber in die Frauenklinik. Nicht etwa weil ich glaube, dass mir da eine andere Behandlung angetragen wird, sondern weil es da eine Cafeteria gibt, wo leckerer Kuchen angeboten wird. Nach einer Tasse starken Bohnenkaffees fühle ich mich wieder mobiler und auch der Schwindel lässt nach. Meine Laune ist aus verständlichen Gründen nicht die Beste, aber ich kann niemandem die Schuld an dem Missgeschick geben. Kismet oder Chance? Ich muss die weitere Entwicklung abwarten und auf die Kunst der Techniker hoffen. Ich will auch nicht mehr hinterfragen, warum gerade mir so etwas passiert. Eine Antwort darauf weiß nicht einmal der Papst.
Ach ja, der Papst. Ich höre, dass schon lange vor dem hohen Besuch über die Mitarbeiter des Klinikums eine Urlaubssperre verhängt worden ist. Nur diejenigen, die ihren Urlaub schon zu Jahresbeginn genehmigt bekommen haben, dürfen auch in dieser Zeit urlauben. Wenn der Papst seine Glieder hier in freiburg besucht, so stelle ich mir die Frage, ist das dann eine Heimsuchung oder ein letzter Versuch, die badische Sonne im Spätsommer zu genießen. Am Messegelände wird es sehr heiß sein, obwohl der Heilige Vater ja auf Schritt und Tritt von seinen Getreuen beschattet wird. In der „Bild“ lese ich, dass auch der Himmel über Freiburg überwacht wird, wenn der Papst spricht und Kampfflugzeuge parat stehen, bei Gefahr aufzusteigen. Und ich dachte immer in meiner Naivität, die Engel wachen über den geistlichen Würdenträger. Hoffentlich kommt der Papst auch mal nach Carlsdorf an die Lempe im schönen Reinhardswald, dorthin, wo wir leben.
Da müssten alle „Werktätigen“ arbeiten und auch die Ämter in der nahen ehemaligen Kreisstadt Hofgeismar hätten durchgehend bürgerfreundlich geöffnet. Aber das wird sicher nicht so kommen, da Hofgeismar keinen Platz hätte für 300000 Pilger. Doch vielleicht kommt so ein Ereignis „Henners Traum“ näher als der bereits Ausgeträumte. Anmerkung: Henner Sattler ist unser derzeitiger Bürgermeister und möge mir bitte verzeihen, falls er das liest. Abends, während eine Schwester gerade den Nachbarn mit neuen Blasendauerkathetern fachfraulich versorgt, bekomme ich auf dem Stationshandy einen Anruf. Mein ehemaliger Zimmerkollege aus Waldkirch, der junge Architekt, erkundigt sich nach meinem Wohlergehen und hat auch meine „letzten Tage“ in der Klinik online verfolgt. Das finde ich mehr als nett, dass er mich anruft. Ein feiner Mensch! Er will unsere „Lebensreise“ weiter verfolgen, auch wenn sie zur Zeit stockt. Ich sitze am Spätnachmittag eine gute Stunde auf dem begrünten und bedachten Stationsbalkon und surfe im Netz. In der polnischen Stadt „Czaplinek“, wo wir im Sommer eine wunderschöne, ereignisreiche Woche verbringen duften werde ich fündig. Tatsächlich sehe ich da auf der gut gestalteten Homepage der Stadt einen ausführlichen Bericht über unsere damalige Anwesenheit und auch zwei Farbfotos. Das hatte uns ja auch Bürgermeister Dudor einst versprochen, dass er uns als besondere Gäste ins Netz bringen will. Einfach toll! Danke, Herr Dudor! Aus dem Bett führe ich ein langes Gespräch mit unserer Tochter Tamara, die mir Mut zuspricht. Wie gerne würde ich jetzt beide Kinder und Schwiegerkinder um mich haben, aber es stehen leider über 500 Kilometer dazwischen. Die Nacht wird lang. Ich schlafe erst nach der „Mitternachtsinfusion“ ein. Zuviel geht mir durch den Kopf. Was hält der morgige Tag an Überraschungen für mich bereit ??