7. Juni
Ich befrage nebenan den einen jüngeren Arbeiter, der seit 8 Uhr wieder am Saunagebäude arbeitet, ob er wüsste, wo es in der Nähe eine „Bosch-Werkstatt gibt. Er gibt die Frage umgehend weiter an den Chef des Hauses und der telefoniert einfach drauf los. Seine Frau kommt dazu und „dollmätscht.“ Es käme jemand aus dem Dorf, bekomme ich zu hören. Wir wollten eigentlich zu der Werkstatt hinfahren, um dann sofort weiter zu fahren. Nun aber warten wir auf die Werkstattleute, die herauskriegen sollen, warum unsere zweite Batterie im Bauwagen nicht mehr lädt. Es ist ja nicht gut, wenn eine Batterie leer bleibt und wir unser Teewasser aus dem Kanister entnehmen müssen.
Bevor die Mechaniker kommen, wollen wir die vergangene Nacht bei Marje bezahlen. Sie schüttelt aber vehement den Kopf und sagt, wir bräuchten nichts zu bezahlen. Hä ?? Sie hat wohl einen Narren an uns gefressen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ein erstauntes Gesicht zu machen und uns herzlich für die Gastfreundschaft zu bedanken.
Dann kommt der Werkstattwagen mit zwei Monteuren angefahren. Sie können die Zuleitung vom Trecker zur zweiten Batterie nicht überprüfen, weil die Batterie völlig entleert ist. Herr Schmidt, der weder englisch noch deutsch spricht, hilft gerne unisex mit seinem Ladegerät aus. Die beiden stellen fest, dass an der neuen Lichtmaschine offenbar ein Kabel nicht wieder angeschlossen wurde. So, so! Das dachte ich mir schon. Aber sie haben keine Kabelschuhe dabei und die Batterie muss auch noch eine Weile laden. Also fahren sie die 6 km zurück zur Werkstatt und kommen nach einer Stunde wieder. Jetzt geht alles ziemlich schnell. Der Schaden ist behoben, die Batterie ist weiter am Laden und wir wollen die beiden entlohnen für die knapp 70 Minuten Arbeit und die zwei Anfahrten und fragen nach der Rechnung. Sie lehnen ab und wollen partout kein Geld annehmen. Es wäre so in Ordnung und ihr Chef hätte gesagt, es wäre eine sogenannte Serviceleistung für gestrandete deutsche Traktoristen. Das gibt es doch nicht! Wir sind wieder mal total sprachlos und geben den beiden einen Schein in die Hand, den sie auch letztendlich widerstrebend annehmen. Wir sind fremd unter Fremden in der Fremde und dann dieses ! Estland wird uns immer sympathischer.
Es ist heiß! 29 Grad zeigt das Thermometer. Wir wollen bald starten und uns von allen verabschieden. Marja kommt angefahren und bringt die Journalistin mit, die wohl keinen Führerschein hat. Das Gespräch verläuft sehr herzlich. Reet Saar, so heißt die Vertreterin der Presse hat viel zu fotografieren und noch mehr nachzufragen. Eine gute halbe Stunde geht drauf, als sie sich alles notiert hat. Sie kommt von der lokalen Presse und ist schon am frühen Morgen gut gelaunt. Einen Gästebucheintrag bekommen wir auch. Der Bericht über uns wird Dienstag nach Pfingsten im Magazin stehen in „Municipality of Märjamaa.“ www.marjamaa.ee Dann wollen wir uns von dem Wirtspaar verabschieden. Der Schweiß läuft schon beim Nichtstun in Bächen an den Beinen herunter und bleibt in den Sandalen stehen. Vor drei Wochen haben wir unsere Schuhe noch von Schnee befreien müssen. Marje bittet uns, noch einen Tag länger zu bleiben, da es ja so furchtbar heiß wäre. Sie braucht uns nicht lange zu überreden.
Wir willigen bald ein und ziehen sofort unsere Badebekleidung wieder an und gehen im Pool eine lange Runde schwimmen. Wir bekommen für den zweiten Tag auch eine Stromleitung gelegt und dürfen eines der vorderen Hotelzimmer zum Duschen und für den Toilettengang benutzen. Ein regelrechter Luxus, finden wir. Wir sind ihr für diese Dienstleistung sehr dankbar. Marje zeigt uns bereitwillig und stolz fast alle Hotelzimmer, die nicht belegt sind. Jedes Zimmer ist komplett anders gestaltet und weist eine ganz persönliche Handschrift aus. Man sieht, es ist alles mit sehr viel Liebe eingerichtet. Wir sind echt begeistert und Barbara meint spontan:“ Dann lass uns doch unseren Urlaub im nächsten Jahr hier verbringen!“ So konkret hat sich meine Frau zum Thema Urlaubsort fast noch nie geäußert. Ich staune und erkläre mich sehr gerne ebenfalls bereit, im kommenden Jahr wiederzukommen. Hier erlebt man in jeder Hinsicht das Paradies !! Ja, der Himmel ist überall! So wird auch der Titel meines Buches im nächsten Jahr lauten. Alle Sinne werden mannigfaltig angeregt. Also bleiben wir noch eine Nacht. Zum Mittagessen werden wir von der ganzen Familie in ihre urige, rustikal eingerichtete Wohnküche eingeladen, deren Höhe circa vier Meter beträgt und u.a. einen gigantischen Brotbackofen beinhaltet. Kostenlos !!! Es gibt Hackbraten, Salzkartoffeln, eine angenehm schmeckende braune Sauce und Gurken- und Tomatensalat. Das antike Geschirr ist allein schon eine Augenweide. Zum Nachtisch wird selbst hergestellter Joghurt mit frischen Erdbeeren serviert. Zu trinken gibt es Hibiskussaft. Ein sehr edel schmeckendes Kaltsaftgetränk. Als wir wieder sehr gesättigt und besonders sehr überwältigt von der Gastfreundschaft der Familie sind, gehen wollen, bekommen wir jeder noch eine Flasche mit eisgekühltem Birkensaft mit. Ist das eine Wohltat! So einen Saft haben wir noch niemals probiert und wir beide sind uns einig, als exklusiven Durstlöscher hat er die Probe allemal bestanden.
Als kleinen Dank besorgen wir Blumen und ein hübsches Fläschchen für die Wirtsleute im nahen Ort. Immer wieder werden wir dort fotografiert, besonders in so kleinen Orten wie dieser einer ist.
Wir bekommen noch einmal hausgemachtes Bier zum Kosten. Diesmal ein Helleres und nicht so stark. Anschließend beim Schwimmen weiß ich fast nicht mehr, ob der Himmel über oder unter mir am Poolboden ist. Aber wie schon gesagt, der Himmel ist überall. Die ganze Familie ist am Schwimmbecken. Auch die Tochter, die am kommenden Samstag heiraten will und die ebenfalls ein verständliches Englisch spricht.
Wir haben vor, am kommenden Tag nach Pärnu zu fahren zu dem städtischen Campingplatz. Nur 63 km. Marje rät uns aber ab davon und telefoniert mit der „obersten Heeresleitung“ des estländischen Gaststättenverbandes, die auch ein Hotel und einen Stellplatz für Caravans an der Grenze zu Lettland betreibt. Sie ist da auch Mitglied im Klub. Der Platz wäre einfach viel schöner und läge direkt am Meer und es gäbe auch fast keine Mücken dort. Wir sind sehr erfreut über diese weitere Dienstleistung, obwohl die zu fahrende Strecke 113 km lang ist und Morgen 32 Grad angesagt werden. Aber wir sind ja ausgeruht. Und jetzt auch noch offiziell angemeldet. Viva la Estonia! Dann erhält in unserem Beisein Marje einen Anruf, der ihr einen wohligen Seufzer hervor ruft. Sie erzählt aufgeregt, dass sie noch gestern Abend das Fernsehen angerufen hat mit der Bitte um einen Filmbericht über die verrückten Deutschen, die mit einem Trecker bei ihr vorm Hotel stehen. Und nun ruft ein Redakteur des tallinischen Sommerfernsehens zurück und sagt ihr, gegen 21 Uhr käme jemand vorbei, um uns zu filmen. Was sollen wir sagen? Wir nehmen es eher gelassen, freuen uns aber auf eine weitere journalistische „Sammlung“ auf unserer Europatour. Zum Abendbrot schleppt Marje in einem geflochtenen Korb „Saussages“ an. Ja, „Sau sag es!“ Ich werde an die netten Damen und Herren aus unserem Englischkurs erinnert, wo ich manchmal (Tanja bitte verzeih mir) die Worte neu forme und anders zusammenstelle. Nein, es gibt keine gewöhnlichen Bratwürste! Wildschweinbratwurst bekommen wir aufgetafelt und ein kerniges Schwarzbrot aus eigener Herstellung dazu. Super! Natürlich kostenlos, wie die lachende Wirtin betont.
Die Familie räumt am Spätnachmittag den ganzen Garten auf, jätet Unkraut und überprüft jeden Winkel des Grundstückes auf Sauberkeit. Dabei ist alles akkurat und ordentlich. Auch wir beide gehen in uns und kehren den Schmutz des Tages nach draußen. Das Fernsehteam hat eine Anfahrt von 150 Kilometern und kommt aus dem östlichsten Teil der Republik und muss zuvor noch zu einer Rockpartie nach Tallin, um dort zu filmen. Wir sitzen auf unseren Klappstühlen hinter dem Wagen im Schatten und warten. Es ist schon nach Zehn, als wir Marje fragen, was nun sei. Sie ruft den Sender nochmals an und erfährt, dass das Auto mit den Reportern gerade eben in Tallin getauscht werden musste, da die benötigte Kamera für Nachtaufnahmen nur in einen größeren PKW passt. Die Spannung wächst. Ich sitze irgendwann mit Barbara im Dämmerlicht vor der Haustüre der Gastfamilie, wehre die unzähligen Stechmücken ohne Erfolg ab und trage uns ins Gästebuch ein. Erstaunlich, wer hier schon alles zu Gast war. Fast alle Nationen sind hier verewigt. Chinesen, Australier, Portugiesen, Feuerländer, Grönländer und auch einige Deutsche. Auch ein deutscher Minister weilte hier vor zwei Jahren. Kein Wunder bei dieser Bewirtung und dieser Herzlichkeit! Barbara ist hundemüde, geht zum Bauwagen zurück und schläft prompt auf der Eckbank fest ein.
Morgen wollen wir um sechs Uhr aufstehen. Da sollte man wohl schon viel früher ins Bett gehen. Viertel vor Elf rauscht ein schwarzer Wagen an. Zwei junge Männer entsteigen und laden die Geräte aus. Meine Herrn! Das sind wirklich große Kaliber. Dann filmt der Eine außen und innen das Gespann und der Andere sorgt für das nötige Licht. Marja ist ganz rot im Gesicht vor lauter Aufregung, weil sie ein Fernsehteam des größten Senders in ihrem Haus hat. Das ist natürlich eine wunderbare Werbung für ihre Hotelanlage. Herr Schmidt, der Wirt und ihr Ehemann, hat sich schlafen gelegt. Er mag diesen Rummel nicht. Dann muss ich den Zetor anlassen und eine Runde mit allen 8 Scheinwerfern, die ich habe eine Runde über den Hof fahren. Natürlich nicht, ohne meine fünf Tierstimmen über den Außenlautsprecher ertönen zu lassen. Hei, das macht Spaß. Nicht bei Barbara. Sie liebt es nicht besonders, wenn ich solchen Fez veranstalte. Danach wird nochmals gefilmt, wie wir den beiden unsere „Geheimecken“ im Wagen zeigen und wir müssen uns an den Tisch setzen und so tun, als würden wir den nächsten Tag planen und uns unterhalten. Das Licht dabei ist so grell, dass ich meine Frau nur noch als schemenhaftes Wesen erkennen kann. Auch mal eine neue Erfahrung. Meine Frau als „Geistwesen.“ Nun ja, manchmal leuchtet sie mir auch heim. Als ich denke, nun wäre Schluss, werde ich fix vor den Trecker postiert, bekomme 20000 Watt auf die Stirn geworfen, so dass meine weiße Kappe mit dem hauseigenen Logo von „Luhtre“ fast zu schmoren beginnt und mir wird ein Mikrofon hingehalten, das groß wie ein Kinderpopo ist. Den Frager kann ich durch die Blendung nicht mehr sehen, aber seine Stimme ist gut in der nächtlichen Stille auf dem Hof vernehmbar. Er fragt mich unmögliche Dinge auf Englisch und ich habe Mühe, ihm sprachlich zu folgen.
Endlich ist dann Schluss und die Wirtin muss parat stehen, um ihr Anwesen dem Fernsehpublikum zu erläutern. Ich habe den Eindruck, es macht ihr große Freude, vom Aufbau zu erzählen. Wir gönnen der Familie diese Aufmerksamkeit.
In den nächsten Tagen soll gesendet werden. Wir bekommen per Email dann den Link zugeschickt. Dann lassen sich die Männer noch die Gästezimmer zeigen und sind sehr interessiert an einem privaten Aufenthalt in der nächsten Zeit. Und…wir trauen unseren Augen kaum. Die Fernsehburschen ziehen sich plötzlich auf der Wiese bis auf die Shorts aus und springen im Stockdunkeln ins kalte Wasser des Pools.
Barbara hat alles gefilmt und auch Fotos von dem Abend gemacht. Ich löse gegen Null Uhr das Ladegerät von unserer zweiten Batterie im Wagen und falle aufgepeitscht durch die Erlebnisse ins zu heiße Bett, wo ich lange nicht einschlafen kann.