Estland – 08-06-11

8. Juni

Um Halbacht sind wir gestiefelt und gespornt und wollen aufbrechen, ohne großen Lärm zu machen. Da haben wir aber nicht mit den Wirtsleuten gerechnet. Marje und ihr Mann stehen mitten auf dem Hof und wir verabschieden uns zum zweitenmal. Marje hat sich besonders schick gemacht und trägt ein buntes, langes Kleid und eine gestickte Leinenschürze davor. Schick sehen die beiden aus und sehr, sehr verliebt. Barbara macht noch ein Foto von ihnen. 

Dann geht’s zur E 67. Auf einigen Wiesen stehen haufenweise große Störche und picken auf den frisch gemähten Wiesen nach Insekten. Es gibt auf der weiteren Strecke fast mehr Störche als Autos. Links und rechts der Fahrbahn in den Gräben blühen die Sumpfschwertlilien. Es duftet nach Heu. Riesige Felder mit angepflanzten Saubohnen sehen wir überall. Es wird gegen Mittag so heiß, dass der Teer auf der Straße schmilzt und wir das Gefühl haben, wir fahren durch Wasser. Es sind seltsame Geräusche von den Reifen zu hören. Alles ist verklebt unter den Kotflügeln. Man fährt wie auf einer angeschmolzenen Eisfläche. Unterwegs begegnet uns ein Kommunalfahrzeug. Darauf steht wörtlich: „teemeister.“ Wir gehen nicht davon aus, dass der Straßendienst von einem Begleitfahrzeug mit Tee versorgt wird, sondern „teemeister“ heißt einfach „Straßenmeisterei.“ An einer ecke lesen wir:“ kooltee“, das auf die Schulstraße hinweist.  

Wenn Kiefern blühen ist die Luft goldgelb
Wenn Kiefern blühen ist die Luft goldgelb

Wir sind noch im Norden Europas oder besser gesagt im Nordosten und es ist so heiß wie in Südwestspanien im August. Schon nach einer guten Stunde Fahrt parken wir neben einer Wiese. Mir ist etwas schlecht von dem Hitzestau und ich lege mich so wie ich bin auf den Rücken unter einen blühenden Wildapfelbaum. Über mir das bizarre Geäst und neben mir die Butterblumenwiese. Herrlich!  

Nach 20 Minuten fahren wir weiter. Ich habe aufgetankt und meine Nackenschmerzen sind weniger geworden. In der großen Stadt „Pärnu“ geht es noch heißer her. Wir durchholpern mehrere lange Baustellen, wo auch noch gerade frisch geteert wird. Arme Straßenbauer! Es ist eine Qual, ohne Aircondition zu fahren. Wir öffnen ab und zu beide Türen ein stückweit, um Luft zu bekommen. Das bemerkt auch niemand von den Autofahrern und wenn, ist es uns auch egal. Wir sind am Erschwitzen. Über eine halbe Stunde hält uns die Hafenstadt fest. Im Ort „Uulu“ müssen wir schon wieder anhalten und Frischluft tanken. Die kostet auch im Baltenland Estland nichts und ist rein und sauber. Dann gegen 15 Uhr kommen wir endlich an dem besagten Hotel an. „Kämping“ lesen wir. Das wäre auch für Nichtgeübte ein besseres Deutsch. Man schreibt es so, wie man spricht. 

Im Ort „Pärnumaa“ vor dem Hotel stoppen wir und gehen uns anmelden. Drin im Foyer ist es wunderbar kühl. Die Anmeldedame ist wie erwartet nicht unneugierig und sieht sich unser Reisegefährt gleich an. „Tere tulemast!“ sagt sie und lächelt. „Herzlich Willkommen!“ Das Hotel ist modern, hat zig Zimmer und Suiten und liegt unmittelbar am Meer. Der Strand ist nicht gut begehbar. Überall liegen glitschige Steine herum und das Wasser ist weit draußen. Der Stellplatz schließt sich an ein lichtes Kiefernwäldchen an. Uralte Schwarzkiefern werfen ihre Samen als gelben Staub auf alles, was darunter steht. Wir stehen mitten im Wald. 

Bei "Pärnu"
Bei "Pärnu"

Ich wurschtele mich zwischen den Bäumen hindurch und bemerke zu spät, dass ich zu weit nach links an einen Baum komme. Ich stecke fest und Barbara keift mich an. Soll sie doch erst mal fahren. Wir kommen aber nicht dazu, uns lange weiter zu streiten. Zwei Männer springen aus einem PKW, winken uns zu, als ob sie uns kennen würden und begrüßen uns mit Handschlag. Ob sie uns heute im estländischen Fernsehen gesehen haben? Nein, die Geschichte ist eine ganz andere. Die Hotelbesitzerin hier hat von unserer guten Marje erfahren, dass wir auf dem Weg zu ihrem Betrieb sind und hat die Presse verständigt, die dann, wie wir später erfahren haben, alle halbe Stunde bei der Rezeption nachgefragt hat, ob wir schon angekommen sind. Es ist diesmal nicht irgendeine lokale Tageszeitung, sondern eine überregionale, die in ganz Estland erscheint. Produziert wird sie in Tallin. 

Der Journalist spricht deutsch und englisch und schwedisch und so verständigen wir uns auf vielfältige Weise. Sein Name ist Arvo Uustalu und er kommt von der Zeitung „OHTULEHT.“ www.ohtuleht.ee  Der andere Mann fotografiert und schweigt.

Wir tauschen Visitenkarten aus und ich verteile Prospekte und rühme meine Heimat wieder mal in den hellsten Tönen. Am nächsten Tag schon soll der Artikel in Farbe erscheinen. Auflagenstärke über 400’000. Geschafft! Die Männer fahren wieder ab und wir streiten uns eine Weile weiter, bis wir endlich den Hänger abkoppeln und ihn ein Stück rückwärts von Hand schieben, was Mühe kostet. 

Campanulawiese (Glockenblumen)
Campanulawiese (Glockenblumen)

Vier französische Paare, die zeitgleich mit uns angekommen sind, stehen auch sofort bei uns. Sie kommen aus Südfrankreich und wohnen in der Nähe des Zwergenstaates Andorra. Als sie auf unserer Außenwandkarte sehen, dass wir fast genau dorthin fahren werden, bekommen wir eine Einladung von allen, sie zu besuchen. Adresse, Email, Telefonnummer und Name. Da kann ja nichts schiefgehen im Herbst im Süden. In der Nähe liegt auch die Partnerstadt der Kreisstadt Lauterbach im Vogelsberg, LEZIGNAN, die wir ja sowieso aufsuchen werden. Die eine Madam präsentiert mir ihren stummen, zotteligen Bernhardiner. Der bellt nicht mal auf Französisch, als er mich erblickt. Er war Europameister von ich weiß nicht was und sie zeigt mir alle seine Trophäen und Kelche und auch den ellenlangen Stammbaum. Nur englisch sprechen sie nicht, die Frenchmänner. Leider! Aber mit meinen wenigen Brocken französisch komme ich ganz gut klar. „Oui, Madam!“ „Bon voyage, Monsieur !“ „Merci pour visite!“

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