3. Juni
Wir haben uns eine lange Nacht gegönnt und stehen erst kurz vor Sieben auf. Gegen Elf schließen wir uns einem Paar aus Neubrandenburg an, das auch vorhat, mit der Metro, der U-Bahn, die nur 300 Meter vom Campingplatz hält, in die City zu fahren. Ich habe schlecht geträumt und werde, als wir auf dem Weg zur Innenstadt sind, wieder daran erinnert.
Es ist das erste Mal in meinem langen aufregenden Leben, dass ich Passagier in einer Untergrundbahn sein werde. Mir graut es davor. Ehrlich! „Untergrund!“ Wir wissen erstens nicht genau, wie am Automaten der Fahrschein für ein Tagesticket gezogen wird und zweitens nicht, wie weit wir fahren müssen, um am Zentralbahnhof anzukommen. Alles kommt uns sehr finnisch vor. Ich würde viel lieber 150 Kilometer mit einem bekannten Trecker über den Mont Everest oder sonst wohin fahren, als 9 Stationen weit mit einer unbekannten U-Bahn in einer europäischen Hauptstadt. Ich bin mehr als aufgeregt. Die Nerven flattern, der Atem vibriert, die Hände zittern und mein Pferdeschwanz steht steil in der Luft, als wir vor dem Automaten stehen. Doch der …bleibt gelassen und zeigt uns im Display auf Englisch an, was wir tun müssen, um an den begehrten Tagesfahrschein zu 7 Euro zu kommen.
Die orangerote Bahn kommt und geht im Abstand von 2-3 Minuten. Ich werde an die alte, witzige Reklame der deutschen Bundesbahn erinnert, wo eine alte Dame mit Gehstock am Bahnsteig steht und freudig krächzt: „Die Bahn kommt, die Baaaaahn!“ Wir schlüpfen hinein und ich mache mich so gut es geht ganz klein in meiner Ecke. Hoffentlich kommt jetzt kein Schaffner und will mir ein Loch irgendwo rein knipsen.
13 Minuten später und 11 Stationen weiter sind wir erstaunlicherweise unter und über der Erde 12 Kilometer weit gekommen und verlassen eiligen Schrittes dieses Monstrum von Massenbeförderungsmittel. Wir werden ausgespuckt. Nun sind wir wieder alleine und schauen uns um.
Die Sonne brennt auf meine rote Kappe. Es ist heiß in der City. Fast alle jungen Frauen und Männer laufen sommerlich schick und leicht gekleidet an uns vorbei. Nur ich trage meine knallroten Norwegerwollsocken in meinen hellblauen Lieblings- Tretern und noch die fellgefütterten Hosenträger vom Nordkap. Ein Fehlgriff.
- Gut, dass wir einen Stadtplan dabei haben. Wir wollen als erstes die sogenannte „Zetor-Bar“ aufsuchen, eine In-Kneipe, die einst die bekannte Rockband „Leningrader Cowboys“ gegründet haben und wo ihre Musik heute noch weltweit Anhänger findet. Auf Anhieb stehen wir vor der Mannerheimintie Nr. 3-5 und sehen das Eingangsschild. Auf der Hochterrasse steht ein uralter Zetor in Grün aus den frühen Fünfzigern.
Das Szene-Restaurant öffnet aber erst um 12 Uhr. Wir besuchen das größte Kaufhaus Finnlands „Stockmann“ nebenan. Acht Stockwerke hat es und keine Wühltische.
Die Toiletten besitzen keine Brausepülung für den Allerwertesten. Da haben sie aber kräftig gespart, die „Stockmann-Finnen.“ Mein „Volkszorn“ hält sich aber sehr in Grenzen. Wir wühlen uns durchs Gedränge und kaufen uns in der umfangreich bestückten Papierwarenecke nach Wochen der Entbehrung zwei deutsche Tageszeitungen.
Wir erfahren, dass Kennedy ermordet worden sei, der Schah von Persien ins Exil geflüchtet ist und dass spanische Gurken nicht die Ursache der Todesfälle in Deutschland gewesen sein sollen. Wir sind endlich wieder „up to date.“
In Helsinkis Innenstadt pulsiert das Leben. Wie könnte es auch anders sein. Cafe reiht sich an Cafe und es wird flaniert, was das Zeug hält. Straßenmusiker unterhalten die Passanten und hunderte von Sintifrauen halten uns Sträuße von Maiglöckchen hin.
Fast nichts unterscheidet Helsinkis Flaniermeile von der Kasseler Königsstraße. Mit der Zeit fühlt man sich wie zu Hause. Wir sind pünktlich in der „Zetor-Bar.“ Schummriges Licht umfängt uns und harte, sehr harte Klänge einer Rockband. Mehrere Zetor-Traktoren stehen in der Kneipe herum. Um die Traktoren herum sind Theken gebaut und Barhocker stehen davor. So kann man sicher stilvoll sein Bierchen schlürfen. Die Speisekarte ist eine Zeitung in DIN A 3 Größe und alle Gerichte sind in genau 25 Sprachen aufgedruckt. Ob bulgarisch, chinesisch, isländisch oder portugiesisch. Nur „hessisch“ haben sie ausgelassen. Macht nichts.
Das bestellte Essen schmeckt vorzüglich und kommt schnell, die Bedienung ist auf Zack und die Atmosphäre stimmt. Ich bestelle mir das Gericht Nr. 19, übrigens mein Leibgericht (außer schwedischem Blutpudding) und übersetze mal den Inhalt auf finnisch so wie es da gedruckt steht : 19. PARILOITUA MAKSAA (VL, G) 16:80.- Pariloitua maksaa, perunamuusia, puolukkaa ja pippurikastiketta. Wirklich nicht schlecht, wenn man „Medium“ bestellt hat.
Wir lassen bei der Bedienung zwei von unseren Visitenkarten da und … Grüße aus Deutschland an den Manager dieses Szenelokals.
Gut gesättigt machen wir uns dann auf den etwa 2 Kilometer langen Weg zum Fährhafen. Es ist eher ein Bummel. Wir kommen an Marktständen vorbei, wo Händler von grönländischen Pfirsichen bis zu ostfriesischen Elchsteaks alles anbieten, was die jeweilige Natur zu bieten hat. Im Büro der „Viking-Line“ fragen wir nach, wann am nächsten Tag die Schiffe nach Tallin abgehen.
Die Auskunft ist niederschmetternd. Das Schiff ist bereits voll, bevor die ersten Fahrzeuge angerollt sind. Ausgebucht! Nur nach 21 Uhr wäre noch eine Überfahrt nach Estland möglich. Wir verzichten auf die Nachtfahrt und nehmen die erste Fähre einen Tag später, am Sonntag um 11 Uhr 30.
Nun wird es spannend! Die Angestellte am Schalter fragt uns nach dem Fahrzeugtyp, der Höhe, der Breite und der Länge. Ich erkläre. Sie grinst mit einhundertvierundvierzig Augenaufschlägen, rechnet und rechnet und schiebt sich dann sich die schwarzen Locken von der verklebten Stirn, bevor sie vernehmlich aufstöhnend einen Vorgesetzten anruft. Oder auch den Kapitän. Ich höre nur immer wieder das Wort: Traktori und Saksa.
„Soso, einen Traktor mit einem 3,20 Meter hohen Trailer wollen Sie über den finnischen Meerbusen transportieren!“ „Da müssen Sie aber leider einen Penni drauflegen!“ Und schon sind wir um einen Fahrschein reicher.
Auf dem Rückweg reicht es gerade noch für ein Softeis, einen Aufkleber von Helsinki und das Eintrittsgeld für das nationale „Art-Museum.“ Ein Kunstgenuss besonderer Art. Alte und neue finnische Maler sind zu sehen. Es riecht streng nach Bohnerwachs und Mottenkugeln. Es können auch die Farben sein, die ausdünsten.
Die Fahrkarten für die U-Bahn gelten 24 Stunden in jeder Richtung, sooft man fahren will. Ich bin froh, als wir lebendig, aber schweißgebadet wieder aus der Bahn aussteigen und zum Campingplatz wanken.
In unserem kleinen Dorf am Rande des Reinhardswaldes in Nordhessen an der deutschen Märchenstraße gibt es weder eine S-, noch eine U-, O- oder eine E-Bahn. Nur eine kleine Rutschbahn für die Kinder neben dem Dorfgemeinschaftshaus. Wir sind halt Landkinder und so ein Großstadtbesuch schafft uns. Wäre jetzt unser Neffe Carsten dabei, der in Berlin lebt, würde er uns sicher auslachen über so viel Unwissenheit. Carsten, darfst ruhig lachen!!
- Nun werden wir uns wohl oder übel noch einen weiteren Tag auf dem Zentralcampingplatz in der Hauptstadt aufhalten müssen. Egal! Morgen wollen wir es trotzdem noch einmal riskieren mit der U-Bahn zu fahren.
Der große Zoo liegt auch nur drei Stationen entfernt und die Karten gelten noch bis zum Mittag. Ich finde, so eine Bahnfahrt in einer so schönen orangeroten Schnellbahn, dazu noch unter Tage hat auch seinen Vorteil. Man braucht nicht ständig auf den Folgeverkehr zu achten und die Spur wird automatisch gehalten.
Das ist doch auch was, oder ??