10. Juni
Fünfundsechzig Kilometer schaffen wir heute nur. Daran sind die Einunddreißig Grad schuld, die uns das Atmen in der 45 Grad heißen Treckerkabine erschweren. Wir werden von drei Wohnmobilfahrern laut hupend überholt. Es sind die drei französischen Familien, von denen wir uns gestern verabschiedet haben. Sie freuen sich wohl, uns eingeholt zu haben. Ist ja auch ein Kinderspiel bei unserer „Raserei.“ Der Bernhardiner, der sabbernd aus dem Wohnmobilfenster glotzt bellt auch heute nichts auf Französisch. Wir fahren zu einer der zahlreichen landestypischen Tankstellen und wollen Diesel tanken. Im ersten Moment denken wir, dass der angeschlagene Preis in der Währung „Lat“ nur für einen halben Liter gilt. Wäre doch möglich. Aber nicht doch! Der ganze Liter kostet umgerechnet nur 81 Eurocent. Barbara erinnert mich an das Tanken in Norwegen, wo der Liter Diesel 1, 88 Euro gekostet hat… Wo wir schon so günstig tanken können, wollen wir uns anschließend einen Hamburger an der Tanke gönnen. Wir staunen nochmals. Der saftige Hamburger mit allem drum und dran kostet mit der Flasche Cola nur 1,89 Euro. Der teuerste Liter Motoröl nur 3,50 Euro. Sind wir hier im Schlaraffenland oder nur in Nordosteuropa?
Das Land ist so westlich geprägt wie Westeuropa. (Ist auch ein interessanter Satz, oder?) Alles ist sehr sauber und ordentlich im Land, die Straßenränder sind gemäht, die Infrastruktur hat nur wenig Lücken, die Geschäfte sehr gut sortiert und man vermisst nichts. Das Land gibt sich viel Mühe mit dem weiteren Aufbau. Das muss anerkannt werden. Nur wenn man die kleinen Nebenstrecken abfährt und durch Dörflein kommt, meint man oft, in einer russischen Kolchose zu sein.
Es leben in Lettland etwa 29% Russen, die aber keine Staatsbürgerschaft haben, aber dem Land seit alters her natürlich ihren Stempel aufgedrückt haben, was aber den Reiz des Landes nicht schmälert. Im Städtchen „Salacgriva“ finden wir auch ein Touristen-Informationsbüro in einer Seitenstraße.
Wir fragen nach, wo wohl der nächste Campingplatz in Richtung Süden ist. Die sehr fitte junge Frau gibt uns eine Landkarte und kreist den Ort ein. Es sind gerade mal 8 Kilometer bis dorthin. Dann fragen wir nach Postkarten. Wir dürfen uns so viele mitnehmen, wie wir wollen. Sie kosten nichts. Nur die Briefmarken für umgerechnet 30 Cent nach Deutschland zahlen wir. Sie macht uns auch darauf aufmerksam, dass es wenige Minuten hinter der Stadt ein großes Münchhausen-Museum beim Ort „Mustkalni“gäbe mit einem langen Naturpfad. Mit neuesten Informationen versehen, machen wir uns auf den kurzen, heißen Weg zum Campingplatz, dem ein Hotel angeschlossen ist. (Oder umgekehrt) Es trägt den stolzen Namen „Rakari.“ Als wir rechts in einen Schotterweg, der zum Platz führt, einbiegen, fällt uns nichts mehr ein. Gar nichts mehr. Gut, dass wir uns unbeobachtet glauben. Die 900 Meter bis zum Hotel waren sicher mal in sowjetischer Zeit eine Teststrecke für Panzer oder für eisenbereifte Postkutschen. Ich schalte in den 2. Gang runter, fahre 10 Sachen und das…bekommt unserem Rücken auch noch nicht gut. Wir stehen fast im Fahren.
Erstaunlich, was die Letten für eine Gesundheit haben müssen. Wir sprechen im Rhythmus der letzten Meter sehr arhythmisch, als wir uns an der Rezeption anmelden. Unsere Worte fallen gerüttelt in die leere Einganshalle. Sie schauen erst einmal nach draußen. Der Stellplatz befindet sich auf einer großen Wiese gleich hinter dem schmucken Hotelkomplex. Wir stellen uns neben die einzige, steinalte Eiche auf die gemähte Fläche, die Schatten verspricht. Neben uns noch ein weiterer Camper aus Südfinnland mit seiner Familie. Die Toilettenanlagen sind in Ordnung, das Personal ist servicemäßig gut geschult und das Meer nur 400 Meter über einen Waldweg von uns entfernt.
Schon eine Stunde später findet man uns im warmen Wasser des Rigaer Meerbusens wieder. 200 Meter muss man im Wasser gehen, um bis zur Hüfte nass zu werden.
Die beiden Damen sind von unserem Gefährt dermaßen begeistert, dass sie fast vergessen, uns das Anmeldeformular rüberzureichen.
Oder, wenn man auf den Händen durchs Wasser watet, hat man dasselbe Ergebnis. Es sind nur etwa acht weitere Personen am Sandstrand. Wir geben den abgespülten Fahrschweiß an die feuchte, salzige Unterwelt weiter.
Gegen 21 Uhr bekommen wir Hunger. Warum nicht mal im Hotel gepflegt essen gehen? Gedacht und umgesetzt…wir bestellen eine sehr delikate, rotgefärbte, deftige, dicke Vorsuppe und bekommen zuerst einmal Grau- und Weißbrot mit guter Butter. Das Hauptgericht besteht aus jeweils zwei Stielkoteletts mit Avocadocreme, geröstete Knoblauchzehen, pikante Tomatenstückchen in frischem Dillsud, Folienkartoffeln und Salatbeilagen. Dazu trinken wir ein großes, einheimisches Bier und 50 ccm edlen Wodka, der aus der Umgebung kommt. Wir zahlen lediglich 19 Euro mit Trinkgeld für alles.
Der Nachbar, der Finne, trägt sich noch ins Gästebuch ein und gegen 22 Uhr kommt noch eine der freundlichen Bedienungen über den Weg zu uns angelaufen, um mir doch noch einen Aufkleber für den Trecker vom Hotel „Rakari“ zu schenken, weswegen ich am Nachmittag vergebens nachgefragt hatte. Sie haben ihn organisiert. Das ist Service!
Die 7 Ferienhäuser nebenan sind alle grasdachgedeckt und sehen sehr stabil und rustikal aus. Für so eine Wohneinheit mit ca. 50 qm zahlt man pro Tag hier nur 35 Euro. Das Ausleihen von einem Tourenrad kostet pro Stunde 90 Cent, das Mieten eines Surfbrettes am Tag 4 Euro. Schlaraffenland Lettland!
Es ist schon wieder kurz vor Eins in der Nacht, als ich den Deckel meines Laptops herunter klappe.