15. Juni
Wir frühstücken. Es ist schon weit nach Neun. In Gedanken kaue ich ein knackiges Brötchen mit Marmelade und viel dicker Butter. Mein Bruder und meine Schwägerin wundern sich immer über meinen „Butterhunger.“ Deimante bringt uns die Speisekarte. Tja, was sollen wir nun daraus entnehmen? Sie bemerkt unsere Unschlüssigkeit und versucht, zu beraten. Omelett, yes? Barbara nickt und ist froh, dass es was zwischen die Zähne gibt. Sie denkt an die Zeit und drängt zum Aufbruch. Ich suche mir etwas heraus, was wohl so „exakt“ und für alle Fremde so verständlich geschrieben steht, dass man annehmen könnte, es hätte etwas mit Brot zu tun. Das Frühstück wird stilvoll serviert. Wir sitzen draußen in der Morgensonne. Meine weiße Kappe hält die größte Hitze ab. Barbara hat einen Teller vor sich stehen mit 3 Spiegeleiern, Tomaten- und Gurkenstückchen. Brot fehlt. Aber Pfeffer und Salz gibt es. Für jeden von uns je zwei Streuer.
Ich …habe mich wieder mal gründlich vertan. Auf meinem Teller befindet sich eine braune, aufgelockerte, klebrige Masse. „Mikado“ kommt mir spontan in den Sinn. Ich fange an, mein Mahl vorsichtig zu sezieren, Stück für Stück. Ich habe da liegen in Pommesform geschnittenes Kantenbrot mit Kümmel, das in reichlich Öl eingetunkt wurde. Darüber schmiegt sich geschmolzener Käse und versucht, wieder seine ursprüngliche Form zu bekommen, was aber die Sonnenstrahlen zu verhindern wissen. Nicht schlecht, denke ich und nehme den ersten Brocken behutsam mit der Gabel auf. Heureka! Ich hätte auch in eine saftige Knoblauchzehe beißen können. Der schwarze Tee vermag nicht, meine Geschmacksknospen ruhig zu stellen. Wie gut, dass unsere Treckerkabine so zugig ist!!!
Dann geht’s weiter auf die Piste. Deimante schaut uns traurig nach und sagt mir ganz leise beim Hinausgehen:“ Schade, dass Sie fahren müssen! Sie haben beide so ein warmes Herz und sind so sympathisch!“ Dieses Kompliment geben wir gerne an sie zurück. Ein letztes Foto von ihr.
Kaunas ist unser Etappenziel. Die „Zweite Hauptstadt“ Litauens mit ca. 400’000 Einwohnern liegt zwischen den Flüssen „Neris“ und „Nemunas.“ Die Großstadt im Südwesten Litauens wollen wir gerne umgehen. Wir kommen sonst gar nicht mehr voran. Die Hitze ist mörderisch. Ich habe mir schon gestern einen ordentlichen „Wolf“ geritten und leide Höllenqualen. Die Sitzunterlagen werden alle Stunde ausgetauscht, aber das Ergebnis bleibt gleich. Vor Jahren besuchte ich mal im Frankfurter Zoo das Affenhaus. Die Pavianmännchen erinnern mich an mein geschundenes Hinterteil….. So etwas hatte ich noch nie und ich kann mir jetzt lebhaft vorstellen, wie es sein muss, wenn man immer im Rollstuhl sitzen muss. Nun gut, weg von meinem Allerwertesten und zurück zur Natur außerhalb des menschlichen Organismus. Wir haben die Nase voll von der langweiligen Schnellstraße und versuchen eine kleinere Straße zu fahren. Immer, wenn wir über ein Brückchen oder auch über eine große Überführung fahren, fällt uns ein Hinweisschild vor der Brücke auf, welches das Gewässer darunter anzeigt. Jeder meterbreite Wiesengraben wird groß angekündigt und benannt. Manchmal ist das Rinnsal fast ausgetrocknet. Hier geben sich die Litauer viel Mühe mit der Beschilderung ihrer heimischen Wasser. Dagegen haben sie versäumt, Campingplatzschilder aufzustellen.
Die Dörfer enden alle mit der Silbe „ai.“ Flussnamen enden mit „supe.“ Die Schrift mit den vielen Betonungszeichen ist zwar leicht zu lesen, doch aussprechen können wir es nicht. Litauisch ist die Sprache, die den Sprachforschern am meisten Freude macht, da sie einmalig ist und es keine andere Sprache gibt, die dem Litauischen gleicht.
Die Dörfer sehen sehr ursprünglich aus. Man fühlt sich in die frühen 50er Jahre zurück versetzt. Holzhäuser dominieren. Überall sind Hofhunde angebunden. Ein kleines Lädchen in einem Dorf nördlich von Kaunas neben einer wunderschönen Holzkirche mit Glockenspiel weckt unser Interesse. Man sollte nicht meinen, auf den Dörfern gäbe es nur das Notwendigste. Nein! Wie ein Kaufhaus für die ganze Familie präsentiert sich der Laden. Die Waren werden noch mit einer Dezimalwaage abgewogen und die Preise in eine angerostete Rechenmaschine eingetippt. Die Bedienungen, alle mit grünen Kopftüchern, sind freundlich und lassen uns gewähren.
Ich stelle wieder mal fest, dass sich einige Schrauben an den Schautafeln zu beiden Seiten des Wagens gelockert haben und ziehe diese mit meinem Universaltaschenmesser wieder fest. Gespannt stehen einige Einwohner in einiger Entfernung daneben auf dem Kirchenvorplatz, wo wir parken und beobachten mein seltsames Geschraube. Es wird fleißig fotografiert. Auch die drei Zeitungsartikel von Schweden, Norwegen und Estland, die ich innen an der Treckerscheibe angeklebt habe, bleiben zu keiner Zeit unbeachtet. Viele versuchen die Texte in der ihnen ungewohnten Sprache zu entziffern. Aber die bunten Fotos sprechen für sich und oft kommt man auch dadurch mit den Einheimischen in ein gutes Gespräch. Ich liebe diese Momente, aber Barbara geht diesen Gesprächen lieber aus dem Weg. Ihr ist meine Gesprächsbereitschaft meist unangenehm. Unsere Visitenkarten finden reißenden Absatz.
Bei Kaunas wird es sehr lebhaft. Die LKWS hupen uns oft mit Pressluftfanfaren an, weil wir wohl auf der z.T. autobahnähnlichen Schnellstraße, die oft vier Spuren hat, zu „schnell“ fahren. Hupt ihr nur, ihr Trucker. Wenn ich groß bin, werde ich euch alle überholen (!?)
Die Litauer sind sicher nicht ohne Grund so kinderreich. So viele Kinder wie hier haben wir in ganz Skandinavien nicht gesehen. Da sind wohl die vielen Störche daran schuld, die sich die „Arbeit“ teilen und nie müde werden, den Kindersegen zu mehren. Freund Adebar hat immer Saison.
Der breite Strom „Nebunas“ hinter Kaunas ist eine Wucht. Breit und behäbig und sehr klar fließt er unter den Brücken hindurch. Einige Segler sind zu sehen und auch kleine Passagierschiffe mit winkenden Menschen. Wir sind schon nach fünf Stunden Fahrt ziemlich entnervt, da wir nicht wissen, wohin. Wir beschließen zur Stadt „Marijampole“ zu fahren in der Hoffnung, dass es da eine Touristeninformationsstelle gibt. Insgesamt wären wir dann wieder 130 Kilometer getuckert. Viel zu viel. Aber es ist schon nach 16 Uhr und es sind noch 25 km zu fahren. Da wird nichts mehr geöffnet sein.
Der Zufall oder das Schicksal oder wie man es sonst noch nennen mag, kommt uns überraschend zu Hilfe. Wir sehen das erste Hinweisschild hinter der Grenze seit Lettland zu einem Campingplatz. Gerettet! „Sasnava“ heißt der langgezogene Ort, dessen 35 Meter hohe Kirche schon zig Kilometer zuvor aus der Ebene herausragt. Der Platz in dem Ort hinter einem Dorfladen ist groß wie ein Fußballfeld und frisch gemäht. Eine junge, nur Litauisch sprechende Frau möchte 10…Euro ! Keine Lat. Nanu, hier mitten auf dem Land? Wir haben noch Euro dabei und geben es ihr in der gewünschten Währung. Sie scheint aber erst ganz zufrieden, als wir noch ein wenig einkaufen bei ihr in dem Kramladen.
Acht Kinder springen um unser Gespann herum und sind sehr neugierig, was das für Fremde sind, die mit so einem Zigeunerwagen angereist sind.
Die Toilette direkt neben dem Wagen ist ein 20 qm großer kalter, dunkler Raum mit einer offenen, nicht abgetrennten Dusche. Im gleichen Raum hinter einer Glastür eine Sauna für etwa 10 Personen und davor neben der Dusche ein Holzzuber mit Wasser bis zum Rand gefüllt mit einem Durchmesser von drei Metern. Das Wasser stinkt und es hat sich obenauf eine Schmierschicht gebildet. Die Frau kommt noch einmal und bedeutet uns, wir müssten die Tür nachts unbedingt zuschließen. Ja, ja, das machen wir schon.
Dann kommen die Kinder. Lachende, johlende, natürliche, unverfälschte, neugierige Kinder, denen es Freude macht, wenn wir anerkennend nicken, wenn sie sich fangen wollen und nicht kriegen. Sie werden mit der Zeit immer zutraulicher. Ich frage die Namen ab und nicke immer freundlich, wenn das jeweilige Kind seinen Namen nennt. Ich hole ein paar Süßigkeiten aus einer Schachtel hervor und nach anfänglichem Zögern greifen alle mit vielen kleinen, ungewaschenen Händen zu und mampfen schmatzend und lachend die Leckereien. Dann finde ich noch ein paar Schokoeier von Ostern, die ich draußen hoch in die Luft werfe und denjenigen lobe, der mit dem offenen Mund gut fangen konnte. Dann fragen die Kinder in ihrer Sprache, ob sie uns einmal besuchen können. Sie dürfen gerne und kommen herein. Große Blicke auf das Innenleben des Wagens. Dann hole ich unsere schwarze Gummiratte hervor und auch die Sonnenbrillen, die lustige, verzerrende Gläser haben. Abwechselnd ziehen die Kleinen die Brillen auf und versuchen, sich gegenseitig Angst zu machen mit der echt aussehenden Ratte. Dann krabbeln sie alle ungefragt auf unser Bett und wollen darin herumtollen. Das ist aber nicht in unserem Sinne und wir bitten sie, das Bett wieder zu verlassen. Sie reagieren brav. Wir schießen ein paar Fotos von den Rangen und zeigen sie ihnen dann als Diaschau mit Musikuntermalung in unserem Fotoapparat. Sie stehen staunend in Reih und Glied und kichern ab und zu, wenn sie sich mit den aufgesetzten Sonnenbrillen auf den Fotos entdecken. Irgendwann, schon lange nach 21 Uhr verabschieden sie sich von uns und winken uns noch lange vom Wiesenrand freundlich zu. Kinder der Welt! Litauische Kinder! Es könnten auch Kinder aus anderen Ländern sein. Wir haben diesen Kontakt sehr genossen.
Dann gehe ich ein paar Schritte um die Ecke, da, wo ein Sonnenschirm aufgestellt ist und Bänke stehen und werde mit einer Handbewegung von zwei Männern, die da breitbeinig und mit geröteten Gesichtern sitzen, heran gewunken. Sie sprechen Litauisch und Russisch und wollen mit mir ein Gespräch beginnen. Meine sehr dürftigen Russischkenntnisse lassen eine tiefer gehende Konversation nicht zu. Bis auf Russisch „Prosit“ und „wie geht es Ihnen“ und „herzlichen Dank“ und einige weitere Worte und kurze Redewendungen bringe ich in dieser Sprache nichts zustande. Wäre doch unsere gute russisch sprechende Mitarbeiterin Anna Lautenschläger jetzt hier. Sie könnte gut vermitteln. Aber ich bin allein mit den Männern, die sich in Plastikbechern Starkbier aus einer 3-Literflasche auffüllen. Ich bekomme einen Becher Bier rübergeschoben und danke mit „balscheue spasiva!“ „Vielen Dank!“ Das wird verstanden.
Der Eine, der die obere Zahnreihe mit Gold verblendet hat und auch fast so aussieht wie der „böse Bube“ in dem James Bond-Film „Goldfinger“ versucht dem Anderen beizubringen, was ich gerade versucht habe zu erklären. Wir sind am Ende nur noch am Lachen und mir steigt das Starkbier zu Kopf. Ich verabschiede mich und beschäftige mich mit meinem Laptop. Gegen 22 Uhr höre ich Männerstimmen vor der Tür. Ich gehe hinaus und da … steht der eine Litauer mit den Goldzähnen mit einem Fahrrad da und hält eine 10-Liter-Blech-Kanne in der Hand. Er bedeutet mir, dass der Inhalt für uns sei.
Ich werfe einen Blick hinein und mir läuft das Wasser, oder besser die Milch im Mund zusammen. Frische Milch! Schnell hole ich eine Schüssel aus dem Schrank und er füllt sie mir bis zum Rand mit frischer, noch warmer Kuhmilch auf. Ich danke und stecke ihm 3 Lat zu. Erst weigert er sich, aber nach kurzem Zögern steckt er sich die Münzen behänd in seine Hosentasche. Ich drücke ihm die schwarze Melkhand mit dem Trauerflor unter den Fingernägeln und berichte Barbara von unserem Geschenk. Oh Gott! Sie hat in ihrer Kindheit so oft widerwillig diese Milch trinken müssen, dass es ihr heute noch hochkommt, wenn sie nur daran denkt. Ich lasse mein Restbier stehen und nehme einen gewaltigen Zug aus dem Glas. Hmmh! Köstlicher geht es nicht. Warme, süße, vollsahnige Kuhmilch von gesunden litauischen Kühen. Ich habe zum letzten Mal dieses köstliche Naturprodukt getrunken, als ich vier Jahre alt war. Meine Eltern werden sich noch viel besser daran erinnern können.
Wir essen erst spät zu Abend. Der wunderbare Schnittkäse, den wir in der Markthalle in Riga, Lettland, gekauft haben fügt sich harmonisch in das sättigende Getränk ein. Ich esse und trinke Milch. Ich vertrage an und für sich keine Milchprodukte, aber meine „Gier“ ist größer als mein Verstand. Spätestens Morgen früh wird mich der Rachegott „Montezuma“ in seinen Fängen haben. Aber heute ist heute und ich trinke die ganze Milch aus.