Polen – 20.06.11

20. Juni

Ich schaffe es nur sehr mühsam um Acht aus den Federn zu kriechen. Niemand darf mich jetzt ansprechen. Auch Barbara hält sich wissend zurück. Ich habe das Gefühl, ich wäre gerade erst eingeschlafen. Meine Augenlider hängen bis zu den Kniekehlen. Nun gut, wir haben eine nicht so lange Strecke vor uns, nur etwa 95 Kilometer. Vor der Stadt „Allenstein“, polnisch „Olsztyn“ plötzlich ein Schild an der Straße, was uns Kopfschmerzen macht. Ein Traktor mit einem durchgestrichenen X soll uns sagen, wir dürfen hier auf diesem Weg nicht nach Allenstein fahren. Nanu? Ich fahre sehr ärgerlich rechts an und wir diskutieren 10 Minuten lang über dieses Verbotsschild. Ganz klein unter dem abgebildeten Traktor der Hinweis „6-8.“  Ich interpretiere das Schild so, dass am Tag nur 6 bis 8 Traktoren diesen Streckenabschnitte in dieser Richtung befahren dürfen und fahre wieder an. Ich werde der Polizei sagen, falls sie mich anhält, ich wäre erst der dritte Trecker heute.

Diese wohlriechenden Feldrandblumen haben es verdient beachtet zu werden
Diese wohlriechenden Feldrandblumen haben es verdient beachtet zu werden

Barbara hat wieder mal Panik. Ich singe das Lied „Rosi, i hol di mit dem Traktor ab!“ Barbara scheint weit weg von allem Irdischen.

Sie sucht vergeblich nach einem versteckt parkenden Polizeiwagen. Mitten in Allenstein, das furchtbar schwer zu durchfahren ist mit einem so langsamen Gespann überholt uns ein Auto. Der Beifahrer hängt sich weit aus dem Fenster und schießt mit einer Spiegelreflex-Kamera ein Foto nach dem anderen. Man kann das Klacken förmlich hören. Das riecht nach Zeitung, schreie ich Barbara zu. Ich glaube auch, schreit sie zurück.

Und tatsächlich. Nach fünf Minuten stehen zwei aufgeregte junge Männer an einer Einfahrt zu einer Tankstelle und bedeuten uns, stehen zu bleiben. Der Fotograf gibt sich als Mitarbeiter der Tageszeitung von Allenstein aus. Sein unaussprechlicher Name ist: „Przemyslaw Skrzydlo“ und seine Zeitung ist die „Agora Gazeta Wyborcza, Redakcja Olsztyn.“ Der andere bleibt inkognito. In Englisch verständigen wir uns ganz gut. Beide sind unheimlich angetan von unserem Gespann und sie wollen Morgen einen Bericht mit vielen Fotos in ihrer Tageszeitung bringen.

Wir beide stellen uns zum 15. Mal seit fast 80 Tagen hinter und neben und vor dem Gespann auf, lächeln und freuen uns über den kommenden ersten Pressebericht aus Polen. Der sehr nette Fotoreporter will ihn uns online schicken.

„Bylo bardzo milo!“ „Es war sehr nett!“

Mit Handschlag und guten Wünschen verabschieden wir uns. Der Reporter hat Sorge, dass wir vielleicht in Schwierigkeiten bekommen könnten in Polen. Daher gibt er uns seine Telefonnummer, die wir anrufen können, wenn es mal „brennen“ sollte.

„Bardzo dobrze!“ „Sehr gut!“ und „Dziekuje!“ „Danke!“

Hinter der Stadt „Ilawa“ ist ein Campingplatz auf der polnischen Landkarte eingezeichnet, der uns passen würde und genau auf der Strecke nach Czaplinek, das in früherer Zeit  „Norbertstadt“ hieß liegt, wo unser guter Norbert Heib mit seinem Weltkonzern „Rimaster“ schon so lange auf uns wartet. Wir verlassen uns wieder mal auf unseren Navigator. Nach über fünf Stunden passieren wir den Stadtrand von Ilawa. Das Navi führt uns bis zum Stadtrand und gibt dann weitere Angaben nicht bekannt.

Am 38 km langen "Gysri-See" an unserem "Rodelplatz"
Am 38 km langen "Gysri-See" an unserem "Rodelplatz"

Campingplatz…Fehlanzeige. Nun kann uns nur noch ein Passant weiter helfen. Ein Radfahrer wird gestoppt und erklärt uns in bestem Polnisch gestikulierend, wo der nächste Platz liegen soll. Er fährt uns auch ein Stück voraus und winkt uns dann in die vermeintliche Richtung. „Osiem Kilometra“ hat er uns gesagt. Acht Kilometer.

Als wir etwa 20 km getuckert sind und verzweifelt nach allen Richtungen Ausschau nach dem gesuchten Platz gehalten haben, fragen wir erneut einen Radfahrer, der unter einer alten Eiche am Alleenrand Schutz vor dem Unwetter gesucht hat, das schon eine ganze Weile wütet, nach einem Campingplatz. Er hält in seiner rechten Hand ein scharfes Beil und sieht auch sonst sehr verwegen aus mit seinem Stoppelbart und den schwieligen Händen. Ich hocke derweil auf meinem Sitz im Trecker und sehe zu, wie er mit seinem Beil in der Luft herumfuchtelt. Er sagt uns mit vielen Gesten, dass in dem nächsten Ort „Susz“ ein Campingplatz wäre.

Wir fahren zwar jetzt nach Norden, statt nach Westen, doch es ist schon nach 16 Uhr und wir würden jeden noch so winzigen Platz nehmen. Hauptsache er kommt bald. In „Susz“ angekommen, läuft Barbara zu einer Autowerkstatt und fragt nach, wo nun der gepriesene Platz wäre. Der Pole schüttelt den Kopf. „Kein Stäle hirr zu Kämping!“ sagt er und zeigt auf unsere Landkarte.

In einer ostpolnischen Kleinstadt nach einem heftigen Gewitterregen
In einer ostpolnischen Kleinstadt nach einem heftigen Gewitterregen

„Abba chabben ein gutt Freund nur 25 Kilmetro. Derr chatt Platz !“ Oje!

Wir fahren in eine zerrupfte Seitenstraße ein. Dahin, wo es zum besagten Platz gehen soll. Aber leider…nach …Osten! Die kommenden zwei Stunden werden uns unvergessen bleiben. Es geht also ausnahmslos durch dichten Wald.

Eine Nebenstrecke also. Ein Waldweg also. Eine Forststraße also. Ein Wanderweg also. Eine Rüttelpiste also. Ein Weg für Nichtschwangere also. Oder was? Ich bin noch kein einziges Mal im dritten Gang gefahren, seitdem ich den Trecker besitze. Der bringt auch nicht viel. Bei Halbgas maximal 11 km/h. Wir fahren über zwei geschlagene Stunden mit etwas unter 12 km/h. Schlimmer geht’s nicht. Die Teerstraße, die wohl zum letzten Mal sicher vor 100 Jahren erneuert wurde, zeugt noch von Spuren der Eisenräder des napoleonischen Heeres. Das kam auch nicht schneller voran. Irgendwann reicht es mir. 5 Stunden wollten wir fahren und nun geht es schon auf die neunte Stunde zu. Ich sitze nicht mehr beim Fahren, sondern stehe rechts im Vorderraum des Treckers sehr unglücklich neben der Fußbremse und lenke im Stehen mit der linken Hand. Der Schweiß läuft mir nicht in Strömen vom Rücken herunter.  

Das kann er nicht.
Hat ja keine Beine.
Kann ja nicht laufen.
Aber fließen kann er.
Und das in Bächen.
Deltaweise !
An der Mündung ist Schluss.
Mein Hosenbund fängt das meiste auf.

Kurioser Anblick für Barbara, da ich normalerweise rechts hinter ihr sitze. Nun stehe ich beim Fahren. Sie bleibt stumm und transpiriert ganz für sich alleine

Im tiefen Wald bei einer Kreuzung steht einsam ein Bauernhaus. Völlig am Ende mit unseren Kräften und mit unserer Geduld klingelt Barbara an dem einzigen Haus, das da einsam im Wald steht. Ein Hündchen kläfft und das Klingelzeichen tönt bis zu mir herüber. Ein junger Mann mit Nickelbrille, der deutsch spricht, öffnet und erklärt Barbara den Weg zum nächsten Campingplatz. Er hat eine Tante in Kassel wohnen. 

Nur noch 12 Kilometer über den Waldweg rechts rein und dann links nach den Buchen und wieder rechts bei der Hofeinfahrt und links am Bach entlang, da wo die Kühe weiden und rechts und rechts und links und geradeaus und einen Kilometer vor dem Platz schräg links rein. Wie einfach doch manchmal Wegbeschreibungen sein können. Wir sind schon neun Stunden unterwegs und es geht schon auf Sieben Uhr zu. Ich kann dieses Gerüttele nicht mehr ertragen. Die Augen brennen, der Hintern, auf Polnisch „dupa“ brennt wie Feuer, der Magen hat seit der Abfahrt um Neun Uhr morgens nichts mehr gesehen außer einen halben Liter Apfelsaft und der Hoffnung, doch noch vor Einbruch der Dunkelheit einen Happen Essen zu bekommen. So schön die Alleen auch sein mögen, die unsere Rumpelpiste begleiten, so wenig nehme ich sie wahr.  Ich bin eher darauf bedacht, bei Gegenverkehr (und das kommt schon mal alle halbe Stunde vor) beim Ausweichmanöver nicht in den Graben zu rutschen. Es kostet sehr viel Nerven und Geschicklichkeit, an den Rand des Waldweges zu fahren.

Rast an der "Liwa", die 2 km weiter in die "Wesla" (Weichsel) mündet
Rast an der "Liwa", die 2 km weiter in die "Wesla" (Weichsel) mündet

Zu viele Löcher und Gräben tun sich da auf und die Ränder fallen so steil ab, dass der Bauwagen kippen könnte. Wer um Gottes Willen hat diese Straße nur gebaut und vor allem für wen ?? Mit einem tiefer gelegten Wagen hätte man hier keine Chance. Für ein Pferd dagegen ein leichtes Spiel. Wir haben zwar 45 Pferde unter der roten Haube, aber die wollen gerade Straßen sehen und keine Schlaglochpiste.

In einem Dörflein angekommen, fragen wir im erstbesten Laden nach, wo nun dieser gepriesene Campingplatz liegt. Ein Mann deutet auf Polnisch: nur 30 Meter den Berg runter! Es sind tatsächlich 400 Meter. In Polen ist alles etwas anders. 

Ein unglaublich schräger, ausgefahrener, sandiger Hohlweg mit vielen unmöglich hohen Buckeln führt tatsächlich runter zu einer Wiese an einem See, die Kinder sicher im Winter als Rodelbahn benutzen. Eine Hanglage für ausgebuffte Camper, die schon alles erlebt haben und nun auf den Kick ihres Lebens warten. Barbara will nicht, dass ich diesen schlimmen Hohlweg runter fahre. Sie erklärt mir die Scheidung, wenn ich es trotzdem tue. Ich willige ein und zuckele los, immer darauf bedacht, nicht mehr als 60 Grad Schräglage zu bekommen. Es ist das erste Mal seit Abfahrt am 3. April, dass so etwas wie Angst in mir hoch kommt. Wenn ich katholisch wäre, würde ich jetzt 10 Mal das „Ave Maria“ beten.

Endlich stehe ich da, wo es einigermaßen gerade ist. Einigermaßen. Ich triefe vor Anspannung und vor Eigenlob und denke, so ist es gut, wie ich stehe. Das ist Barbara aber viel zu  ungerade und sie mault wie selten zuvor. Sie ist auch fertig mit der „Bereifung“ so wie ich. „Wenn du so stehen bleiben willst in dieser Hanglage, dann bleibe halt so stehen! Ich suche mir ein Zimmer in einem Gasthaus und du kannst sehen, wie du klar kommst!“ sind ihre harschen Worte. Und ich habe mir solche Mühe gegeben beim Aufsuchen der geradesten Fläche. Wortlos lassen wir die Stützen herunter. Ein polnischer Camper ruft per Handy den Chef des „Schrägcampingplatzes“ an und meldet uns an.

Himmel über Ostpreußen
Himmel über Ostpreußen

Wir sind restlos fertig mit unseren Nerven nach 9 Stunden Fahrt, weil wir durch die vielen Umwege nur 130 km geschafft haben und es bald dämmrig wird und wir einen Bärenhunger haben. Die Chefin kommt bald darauf und gibt uns einen Schlüssel für die Toilettenanlagen und schließt den Stromkasten für uns auf. Wir werden sehr nett aufgenommen.

Es sind nur 3 Camper aus Polen auf dem Platz und einige Kajütboote dümpeln am Ufer, wo sich eine handvoll Menschen aufhalten.

Ein junges Pärchen aus Polen, das in den Flitterwochen ist und mit einem Kajütboot auf dem „Gysri-See“ rumdümpelt, der eine Länge von 38 km hat, lädt uns spontan für den nächsten Morgen zum Kaffee auf ihrem Boot ein. Das ist Polen! Menschen, die man einfach mögen muss. Die Teichmummeln wachsen hier besonders gut und ihre quittengelbe Blüten stehen hoch über dem Wasser. Seerosen gibt es nur am Rand der Flüsse und Bäche.

Der alte Janek schaut sich im Prospekt den Reinhardswald an
Der alte Janek schaut sich im Prospekt den Reinhardswald an

Wir sind in „Schwalgendorf“, jetzt „Siemany“ in Ostpreußen. So hieß dieser Ort früher einmal, als es noch Deutsch war. Ein alter Mann mit einem noch älteren Klappfahrrad  begrüßt uns herzlich in ostpreußischer Mundart. Er ist nach dem Krieg hier geblieben und heißt Janek. Er kann es nicht fassen, dass wir aus Deutschland hergekommen sind, um seinen Platz aufzusuchen.

Nun ja, wir sind auch nur auf der Durchreise, erklären wir ihm und legen ihm viele Prospekte von unserer Heimat in die schwieligen Hände. Er freut sich sehr darüber. Morgen früh will er uns vor Abfahrt im Bauwagen besuchen, verspricht er winkend und radelt mit einer Acht im Hinterrad und ohne Licht auf dem Sandweg davon. Ich habe auch noch von ihm erfahren, dass der See vor unseren Augen eine Ausdehnung von „Deutsch-Eilau“ bis „Weinsdorf“ hat.

Irgendwann suchen wir die Toilette auf. Duschen gibt es keine. Der See hat genug Wasser für alle. Mit einer Taschenlampe bewaffnet stolpere ich zuerst über die Rodelwiese zum besagten Örtchen. Der Schlüssel, den uns die Frau ausgehändigt hat, dreht sich knarrend in dem großen, rostigen Vorhängeschloss in der Eisentür. Wir sollen nur immer wieder gleich hinter uns zuschließen, hat uns die Frau mehrmals eindringlich gesagt.Ob das eine öffentliche Bedürfnisanstalt ist? Das Gebäude würde ich als einen ehemaligen Kuhstall bezeichnen. Es stinkt bestialisch. Da, wo einst die Wiederkäuer  in den Boxen ihr Dasein fristeten, gibt es fünf blau gestrichene Eisentüren mit von innen nur unvollkommen verriegelbaren Schiebeschlössern.

Drei davon sind abgeschlossen. Die beiden anderen… Nun ja, ich muss ja nicht unbedingt Probe sitzen. Wäre auch zu ungesund bei dieser Anlage. Die Spülung macht einen Höllenlärm. Plötzlich geht das Licht aus und ich stehe völlig im Dunkeln. Meine Taschenlampe hilft mir, den Sperrriegel der Tür wieder unter lautem Quietschen zurück zu schieben. Zwei von drei Schrauben sind lose. Ich drücke den Druckschalter des Lichtschalters.

Ostpolnische Abort-Anlage
Ostpolnische Abort-Anlage

Aha! Er hat einen Wackelkontakt und ein zweiter Stehpinkler müsste den Schalter so lange gedrückt halten, bis man fertig ist. Ich will mir an einem der drei Waschbecken die Hände waschen. Zwei davon verweigern den Dienst. Das Dritte spritzt alles über den Rand, da wohl das Hahnsieb verstopft ist. Die vier großen Pinkelrinnen und das Fünfte für kleine Jungens waren sicher einmal kristallweiß. Jetzt sind sie chamois. Zu Deutsch: cremefarben mit ockergelben hübschen Sprenkeln, die auflockern. Ich probiere zum Spaß alle Druckknöpfe aus. Bei einem klappt es und das Spülwasser spritzt über den Rand in den Raum. Das Becken bleibt fast trocken. Daher also die pastellfarbene, warme Patina, die den Raum so anheimelnd macht! Ich habe wohlweislich meine Kamera mitgenommen und fotografiere diesen Ort der Erbauung in allen Perspektiven.

Irgendwie bin ich seit unserer Abreise vor 77 Tagen auf den „Geschmack“ gekommen und mache Fotos von den ungewöhnlichsten Plätzen dieser Welt. Man möge mir verzeihen. Ach, ich habe vergessen zu schreiben, dass das Campieren hier mit allem nur 9 Euro kostet. Klopapier nicht inbegriffen. Das ist angemessen.

Am See unten dümpeln die kleinen Kajütboote, der Mond wirft ein warmes Licht auf die sanitäre Anlage oben am Berg  und ein Fischreiher schreit sein Klagelied in den Nachthimmel. Ich seufze nur leise.

 

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