24. Juni
Wir sind etwas aufgeregt. Das polnische Fernsehteam will zwar erst gegen 11 Uhr kommen, aber wir sitzen schon kerzengerade um Acht am Frühstückstisch. Das polnische Weißbrot kann man sehr empfehlen. Frisch und knusprig. Dazu die cremig schmeckende Butter und den Honig von unserem kleinen Imker aus Lettland…
Ich hänge alle laminierten Zeitungsartikel außen am Wagen in die Halterungen. Man muss ja schließlich Eindruck machen, wenn die Medien aufkreuzen. Norbert kommt kurz vor Elf zu uns. Er wird unser „Translater“ vor der Fernsehkamera sein. Auch er scheint nicht unaufgeregt zu sein, obwohl er viel mehr Fernseherfahrung hat als wir und schon sehr oft in den Medien positive Schlagzeilen z.B. als Unternehmer des Jahres in Polen gemacht hat. Punkt 11 Ortszeit kommt ein weißer PKW über den Rasen geholpert. Ein Kameramann und eine Journalistin steigen aus und begrüßen uns. Sie kommen von einem Sender, der ähnlich angesiedelt ist wie in Deutschland „RTL“ oder „SAT1.“ Die junge, hübsche, aufwändig gestylte Journalistin, Edyta Wieleba“ stellt die Fragen (und es sind nicht gerade wenige) und Norbert übersetzt und gibt in Polnisch wieder, was wir von uns preis geben. Der Kameramann bleibt wortkarg und filmt drauf los. Alle Ecken werden abgeleuchtet.
Auch unsere „begehbare Toilette“ und die unzähligen Details und Gags außen und innen am Wagen und am Trecker werden ausgiebig gefilmt. Die ganze Aktion dauert etwa 35 Minuten. Geschafft! Norbert ist offenbar der Hals trocken geworden, so viel muss er übersetzen. Er muss einen Schluck trinken. Nun ja, ich gehöre auch nicht gerade zu den Schweigsamen und er stöhnt manchmal innerlich auf, weil meine Erklärungen zu lang sind. Diejenigen, die mich kenne, wie z.B. meine Mitarbeiterinnen, wissen, von was ich rede. Barbara fasst sich in Interviews kürzer. Das neide ich ihr. Ich bin eher ein umständlicher Erzähler und berichte von winzigsten Nebensächlichkeiten, die mir in Polen aufgefallen sind und schweife leicht und viel zu gerne ab. Nächste Woche am 27. oder 28. Juni soll gesendet werden.
Edyta setzt sich auf den Beifahrersitz mit ihren langen Beinen und den Stöckeln und findet in der engen Kabine kaum Beinfreiheit. Meine Beinfreiheit besteht aber darin, wenn es das Wetter zulässt, dass ich kurze Hosen trage. Das unterscheidet uns voneinander. Die Reporterin will noch einmal in den nächsten zwei Tagen wiederkommen, um uns privat zu besuchen, so sehr hat sie Tante Paula beeindruckt. Wir sind ebenso beeindruckt von der professionellen Arbeitsweise des Fernsehteams. Alles läuft wie am Schnürchen. Zwischendurch fängt es heftigst zu regnen an. Ich beschirme die gute Edyta mit unserem großen, blauen Regenschirm, den wir bei dem Gewitter in Riga auf dem Markt gekauft haben. Drin lässt es sich besser reden. Das Mikro dämpft alle störenden Nebengeräusche, auch den Hagelschauer.
Norbert nimmt uns anschließend ins Städtchen mit und bringt uns zu „seinem“ Supermarkt. Fast hätte ich Margarine aus dem Regal geholt anstelle der Butter und andere Waren wären später auch zu unserer Verwunderung besser eines anderen Zweckes zugeführt worden, wenn unser „Dollmätscher“ nicht dabei gewesen wäre. Nur „Cola“ ist „Cola“ und Brot ist Brot. Norberts Frau besorgen wir eine schöne Orchidee. Sie haben uns so herzlich aufgenommen und geholfen, dass wir uns wenigstens mit dieser Blume erkenntlich zeigen wollen.
Dann fahren wir raus aus der Stadt in die „Neue Stadt“ mit dem schönen Namen „Borne Sulinowo“, eine Stadt, die noch vor wenigen Jahren auf keiner Landkarte verzeichnet war. Die Stadt war damals streng abgeschirmt von der deutschen Wehrmacht. Nach dem verlorenen Krieg zog die russische Armee ein und wieder hat kein Normalbürger diese „geheime“ Stadt im Grünen gesehen. Als die Russen abzogen und alles mitnahmen, was nicht niet- und nagelfest war, wusste der polnische Staat zuerst nicht, was er mit dem riesigen Areal, den Häusern und den Kasernen anfangen soll. Eine leere Stadt!
Später wurde die Stadt für Jedermann freigegeben und man konnte die meisten Häuser für wenig Geld kaufen, um sie instand zu setzen. Sogar die Fensterrahmen und die Dachrinnen und Elektroleitungen hatten die Russen demontiert. Es war eine Geisterstadt geworden und die Bauten drohten zu zerfallen. Inzwischen haben sich die Bürger soweit arrangiert, dass diese polnische, westpommersche Stadt zu einer Vorzeigestadt geworden ist. Der unglaubliche Fleiß der neuen polnischen Hausbesitzer und ihre Beharrlichkeit im Wiederaufbau nötigte allen vollsten Respekt ab. Einer half dem anderen und es ging Hand in Hand in guter Nachbarschaft und Eintracht voran. Norbert führt uns zu einem fast verfallenen riesengroßen Gebäudekomplex. Es sieht aus wie ein Schloss. Imposant der Eingangsbereich, die unglaublich vielen, hohen Räume, die vielen Stockwerke und die noch sichtbaren architektonischen Wunder der besonderen Bauweise dieses „Hauses.“ Hier im sogenannten „Offizierskasino“ der deutschen Elite unter Führung des Führers, der hier sehr oft anwesend war, wurde der Krieg ausgerufen. Wir sind dermaßen beeindruckt von diesem geschichtlichen Ort und seiner Umgebung, dass wir Norbert einfach erzählen lassen und schweigen. Er kennt sich sehr gut aus und berichtet spannend.
Direkt vor dem Gebäudekomplex sehen wir einen See. Hier hat die deutsche Wehrmacht alle neuen U-Boote getestet und es war ein U-Boot-Ausbildungshafen und es gab einen geheimen unterseeischen Eingang, der bis heute noch von niemandem aufgespürt wurde, wo damals geheimste Manöver durchgeführt wurden. Alle, die zu jener Zeit in irgendeiner Form bei der „Aktion Todd“ eingeweiht wurden und beim Bau des unterseeischen Kanals dabei waren, sind nach der Fertigstellung erschossen worden. Auch die Offiziere. Niemand hat überlebt und es wurden alle Aufzeichnungen ausnahmslos vernichtet. Es gibt nichts mehr für etwaige Nachforschungen. Viele internationale Forscher, Taucherspezialisten und todesmutige Einzelpersonen haben versucht, diese Stelle zu finden. Bisher ohne Erfolg. Es ist aber keine Legende so wie z.B. die Legende von dem Ungeheuer im „Loch Ness“, sondern Geschichte. Wir sehen noch teilweise die Hakenkreuze an den Fassaden an den Giebeln in Stein gemeißelt, die die Russen übersehen haben und das schöne, alte Marmor in einigen Hallen. Norbert erklärt uns genau, wo z.B. Göbbels stand und wo sein Schlafzimmer war und wo sich der Führer überwiegend aufhielt, wenn er hier weilte. Wir blicken 70 Jahre zurück und sind atemlos geworden.
Überall zwar Scherben, abgebröckelte Mauern und halb eingestürzte Dächer, aber dieses imposante Gebäude ist dermaßen stabil und bombensicher einst entworfen und gebaut worden, dass man diese Baukunst und die damaligen Architekten bewundern muss.
Es wird jemand gesucht, der evtl. daraus ein Hotel oder ähnliches macht. Er bekäme es für ‚nen Appel und ‚n Ei, doch …wer hat schon das große Geld. Einige Häuser, kasernenähnlich oder auch villengleich gebaut, sind schon von den neuen Eigentümern restauriert und halten modernen Häusern durchaus stand. Überall ist Grün. Einige wenige Häuser sind noch im Originalzustand, so, wie sie damals die Russen verlassen haben und warten auf weitere innovative und risikofreudige Polen, die sich ihrer annehmen. Überall laufen die Betonmischmaschinen und Handwerker sind zu Gange. Auch sonntags.
Dann biegen wir ein paar Hundert Meter um die Ecke und sehen sehr verwundert die …“Arche Noah“ vor unseren Augen. Ein findiger Hotelier hat aus einem der schlossähnlichen Gebäude ein 5-Sterne-Hotel gemacht und das Schiff in den Hang zum „Pile-See“ hineingebaut. Dies aber so genial unter Beachtung des Naturschutzes, dass ich es mit Worten nicht beschreiben kann. Daher die Homepage dieses Paradieses ( www.bornemarina.pl ).
Wir speisen auch in diesem Hotel. Besonders die klare Rote -Bete-Suppe hat es uns angetan und auch der Schweinekrustenbraten lässt nichts zu wünschen übrig. Der Chef des Hauses begrüßt Norbert als einen alten Freund und uns als Tagesgäste. Norbert erzählt allen von unserem Tic, mit dem Trecker durch Europa zu ziehen und ich…verteile natürlich unsere begehrten Visitenkarten. Dann fahren wir zum See „Jezior Drawsko“ und zu weiteren Seen in unmittelbarer Nähe und sehen uns um. Die ganze Gegend um Czaplinek steht den bekannteren Masuren landschaftlich in nichts nach.
Am Abend werden wir vom Campingplatz abgeholt. Norberts Ehefrau hat einiges vorbereitet und Norbert grillt auf der umlaufenden Hochterrasse, wo man einen fantastischen Blick auf einen See hat. Wir schwelgen mal wieder und speisen königlich. Spät in der Nacht werden wir zurück in unser Domizil gebracht und können beide lange nicht einschlafen, so sehr hängen uns die Erlebnisse des Tages noch nach.
Ich weiß und kann es leider nicht ändern, dass ich vieles, was wir gesehen, gehört und erlebt haben, nur sehr unvollständig oder falsch wieder geben kann. Ich bitte auch hier um Verzeihung, aber der Tag heute war so angefüllt mit Eindrücken…ich müsste ein fotografisches Gedächtnis haben, um alles optimal und richtig aufzuschreiben. Aber ich bin nur ein kleiner Schreiber, der versucht, wenigstens einen Teil des erlebten Tages in Worten wiederzugeben, wenngleich auch niemals ein Meisterwerk daraus entstehen kann. Doch …ich habe immer noch die Disziplin, mich Tag für Tag am späten Abend oder auch nachts hinzusetzen, um unsere Lebensreise im Wort festzuhalten.
Manchmal wird es mir zur Last.